30. Oktober 2017

“Da herrscht ein Spirit, der hat nichts Ausgrenzendes.”

Board-Mitglied Dr. Christian Hodeige ist seit vielen Jahren ehrenamtlich für UWC tätig.

Im Vorfeld der UWC-Governance Treffen in Freiburg vom 22. – 28. Oktober sprach BZ-Redakteurin Julia Littmann mit Verleger Dr. Christian Hodeige, der maßgeblich an der Gründung des UWC Robert Bosch College in Freiburg beteiligt war und seit vielen Jahren als Freiwilliger die Zukunft der Bewegung mitgestaltet.

BZ: Sie betonen gerne, dass Sie Ihre Schulzeit am Droste-Hülshoff-Gymnasium als gute Zeit erlebt haben. Was hat Sie dann dazu bewegt, sich für die zwei Jahre United World College zu bewerben?
Christian Hodeige: Das stimmt, es ging mir richtig gut am „Droste“! Und doch war da dieses ganz starke Bedürfnis, diese Gewissheit, es muss doch auch was Anderes geben. Dieses Andere, diese ganz große Attraktion war natürlich für einen jungen Menschen die Internationalität. Und ich muss sagen, ich bin meinen Eltern zutiefst dankbar, dass sie meine Bewerbung damals von ganzem Herzen unterstützt haben. Und natürlich bin ich froh, dass ich einer der Glücklichen 15 war, die damals nach drei Tagen Interviews und Gesprächsrunden aus den 40 „Vorausgewählten“ angenommen wurden.

BZ: Gab es dann für Sie so was wie „Kulturschock“ oder gar Heimweh?
Hodeige: Nein, das hatte ich nie. Aber was war das auch für eine Faszination vom ersten Moment an! Man wird mit so vielen Lebensgeschichten und Lebensumständen ganz direkt konfrontiert. Und bei aller unfassbaren Unterschiedlichkeit ist da zugleich auch diese verrückte Erfahrung von Anfang an, dass uns 16-/17-Jährigen aus aller Welt auch etwas gemeinsam war. Wir waren ja auch alle an ähnlichen Punkten zwischen Kindheit und Erwachsensein. Das hat uns sehr verbunden, egal, woher wir kamen.

BZ: Gab es in dieser Zeit Eindrücke, die sich Ihnen besonders eingeprägt haben?
Hodeige: Reichlich! Zum Beispiel gleich schon dieser ziemlich ernüchternde Perspektivwechsel. Umgeben von Gleichaltrigen aus aller Welt musste ich praktisch sofort erkennen, dass Deutschland und Zentraleuropa keineswegs der Nabel der Welt ist. Das war sehr lehrreich. Und ganz verknüpft mit dieser erstaunlichen Wahrnehmung war natürlich auch das Reflektieren von nationaler Identität. Wir mussten uns ja alle so viele für uns jeweils ungewohnte Namen merken – und haben uns zunächst damit geholfen, uns als „die Inderin“, „der Peruaner“ und so weiter zu bezeichnen. Und ich war halt „der Deutsche“. Und musste verstehen, dass mit diesem „Etikett“ Dinge assoziiert wurden, die ich selbst gar nicht auf dem Schirm hatte.

BZ: Was war das, was Ihnen da sozusagen angeheftet wurde?
Hodeige: Ein Beispiel, das mir dazu einfällt, war überhaupt nicht positiv – und hat mich regelrecht erschreckt. Dass nämlich längst nicht bei allen durchgesickert war, dass Deutschland 30 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine starke Entwicklung zur Demokratie gemacht hatte. Auf dem Wissensstand waren also keineswegs alle meine Mitschüler – und das Etikett „Deutscher“ war entsprechend Anlass für etliche Diskussion. Wir alle haben damals endlose Gespräche über Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung von nationaler Identität geführt, das hat uns sehr beschäftigt. Und es wurde mir sehr eindrücklich klar, wie viel mehr uns die jeweilige regionale Umgebung geprägt hatte als jede nationale Zugehörigkeit.

BZ: Wie wirkte sich dieses Erleben und Begreifen von Unterschiedlichkeit der Herkunft auf die Gemeinschaft aus?
Hodeige: Es stellte sich sehr schnell ein Grundrespekt ein. Und man erlebte diese Vielfältigkeit und das Anderssein als eine ungeheuere Bereicherung, man verstand sie als Geschenk. Für mich war jeder Tag neu, alles öffnete Blicke. Und man verstand plötzlich auch diese Dimensionen. Eben, dass hier nun die junge Generation aus den am Zweiten Weltkrieg beteiligten Ländern an einem Tisch saß. Wie überhaupt Jugendliche aus Krisen- und Kriegsregionen Zimmer teilten, gemeinsam Unterricht hatten und an Aktivitäten teilnahmen. Das heißt, wir erlebten, was alle UWC-Schüler in aller Welt erleben: Frieden ist machbar. Es macht einen Unterschied, ob man das als Parole irgendwo hört oder ob man das im eigenen Lebensumfeld genau so erlebt.

BZ: Klingt nach unausgesetzten paradiesischen Erfahrungen – gab’s nie Krach?
Hodeige: Doch, klar, gab’s auch jede Menge Konflikte – nicht umsonst haben wir das UWC manchmal einen Dampfdrucktopf genannt, denn es verlangt allen auch sehr viel ab. Und es gab und gibt immer auch Leute, für die dieses intensive Leben in dieser engen Gemeinschaft schwierig ist. Was für mich – und wahrscheinlich für die meisten – neu war, war die offene, ja, offensive Art, mit allen Konflikten umzugehen. Es wurde sehr, sehr viel gesprochen und wir haben da gemeinsam gelernt, gerade auch mit dem umzugehen, was schwierig war. Meine Güte, was haben wir da oft stundenlang geredet! Aber: Das war durchaus nicht nur fordernd, sondern unbedingt auch hilfreich.

BZ: Nach den zwei Jahren im College ziehen dann alle Schüler weiter in alle Welt. Wie lange haben Ihre Freundschaften überdauert?
Hodeige: Etliche bis heute. Mit denen ich in meiner Schulzeit das Zimmer geteilt habe, zum Beispiel, verbindet mich bis heute eine ganz enge Freundschaft. Auch in Zeiten, in denen wir nicht in regem und regelmäßigem Austausch sind, bleibt diese Nähe, die in den Schuljahren entstanden ist. Diese Zeit produziert ja ein ganz tiefes Vertrauen. Man kennt sich in und auswendig und hat eine Grundverbindung, die nicht in Frage gestellt wird – und die sofort wieder verfügbar ist, wenn sobald wir wieder Kontakt haben.

BZ: Das UWC steht ja nicht nur für die Internationalität und Weltoffenheit, sondern auch für Kurt Hahns Reformpädagogik. Was haben Sie davon mitgenommen?
Hodeige: Das war für mich natürlich eine völlig neue Erfahrung, wie die Lehrer hier den Schülern begegneten – das war ein konstruktives Miteinander, wir lernten regelrecht im Schulterschluss mit den Lehrern. Und es ist verblüffend, was für einen unglaublichen Erfolg die Hahn’sche Reformpädagogik bei jungen Menschen jeglicher Herkunft hat. Für mich persönlich war da zum Beispiel der Kanadier Larry Huddert eine ganz zentrale Lehrerfigur. Er war früher Manager gewesen und hatte sich dann als Lehrer für Volkswirtschaft ans UWC beworben. Dieser sehr offene und liberal gesinnte Lehrer hat mich restlos begeistert – als Mensch – und ganz nachhaltig, versteht sich, für die Volkswirtschaft. Für die hatte seinerzeit übrigens auch ein sehr junger australischer Lehrer große Begeisterung bei mir geweckt – der viel gereist und sehr informiert war.

BZ: Sehr nachhaltig ist auch Ihr Engagement fürs UWC. Sie haben sich nicht nur dafür stark gemacht, dieses besondere College auch in Freiburg anzusiedeln, sondern setzen sich überhaupt vielfältig für diese Idee ein. Woher rührt dieser lange Atem?
Hodeige: Es ist eine ganz große Liebe zu dieser Idee – und da komme ich auch nicht mehr von weg. Seit 1986 bin ich non-stop immer in irgendeiner Funktion fürs UWC aktiv. Inzwischen wurde ich als stellvertretender Vorsitzender im Board des RBC zugleich Vorsitzender aller Board-Vorsitzenden. Das macht man nur, wenn man von einer Sache durch und durch überzeugt ist. Und etliche Gründe habe ich ja schon – aus meiner eigenen UWC-Erfahrung – genannt. Wir übertragen jungen Menschen ganz früh sehr viel Verantwortung für sich und für die Gemeinschaft. Respekt und Rücksichtnahme stehen in den UWCs sehr hoch und werden von allen verteidigt. Und es gibt dieses breite und weiträumige Spektrum an Fächern und Themen, die hier angeboten werden. Zu meiner Zeit wurde zum Beispiel schon das Thema Umwelt intensiv behandelt – da waren die UWCs absolut Vorreiter. Das kam uns Schülern damals noch fast ein bisschen merkwürdig vor: Umwelt. Die war doch einfach da. Dass Umweltfragen eines Tages zu einer zentralen Frage des Überlebens werden würden, war für uns damals noch kaum zu sehen. Ganz klar: heute wird das Umweltthema in den UWCs besonders brisant und aktuell behandelt. Eine UWC-Absolventin war übrigens die Kanadierin Julie Payette, die später dann zwei Mal als Astronautin im Weltall war. Sie beschrieb, wie von dort aus die Umweltverschmutzung so sehr sichtbar war. Und sie hat das Thema dann auch in ihrer wissenschaftlichen Arbeit aufgegriffen.

BZ: Inzwischen ist Julie Payette Governor General von Kanada. Wie hoch ist aber grundsätzlich die Bereitschaft der UWC-Absolventen, in ihre Heimatländer zurückzukehren?
Hodeige: Ich weiß, es wird uns vielfach vorgeworfen, wir seien ein „brain-drain“, das heißt, wir bewirkten die Abwanderung von gut ausgebildeten Fachleuten aus ihren Heimatländern. Tatsächlich kehren aber sehr viel mehr UWC-Schüler später in ihre Heimatländer zurück. Noch wichtiger als das ist aber ein anderer Gedanke. Wir bemühen uns an den UWCs, Weltbürger zu sein. Das ist vor allem ein klarer Gegenentwurf zu solchen reduzierten Ideen wie „America first“. Das globale Miteinander, die gemeinsame Verantwortung muss ganz oben stehen. Wir alle können uns gar nicht mehr leisten, kleinteilig und nationalstaatlich zu denken. Und in allen UWCs weht dieser ganz spezielle weltoffene Geist. Viele von den UWClern bewahren sich was von diesem Geist und setzen das um – ganz egal, ob im Großen, oder auch nur ganz im Kleinen.

BZ: Nachdem Sie dieser weltoffene Geist im kanadischen UWC angeweht hatte – wie war die Landung in der „echten“ Welt?
Hodeige: Vermutlich wie für die meisten UWC-Absolventen – ein bisschen hart. Man hat da was erlebt, das war so besonders, so offen, so weit … da muss man richtig stark sein, um ganz ruhig wieder zu landen. Man ist dann versucht, mit allen anderen so ein bisschen zu fremdeln, die diese Erfahrung nicht gemacht haben und ist randvoll von dieser Erfahrung und möchte immerzu davon erzählen. Tatsächlich merkt man dann, dass man sich doch lieber auf homöopathische Mitteilungen darüber beschränken sollte – und selber offen und interessiert für alle anderen bleiben muss.
Für mich war was anderes übrigens im ersten Moment schwieriger: Ich kam aus dieser himmlischen kanadischen Wildnis in die Weltstadt London, wo ich dann an der London School of Economics studieren konnte – der UWC-Abschluss wirkte da als anerkannte Referenz. Aus der Natur in die Großstadt. Zuerst bekam ich einen Riesenschreck. Aber schon im nächsten Moment hat mich diese Stadt völlig begeistert in ihrer Vielfältigkeit und Weltoffenheit! Darin waren wir ja nun ausgiebig bestärkt worden: Neugierig zu sein auf alles Neue, das die Welt zu bieten hat.

BZ: Dank etlicher unterschiedlicher Funktionen konnten Sie im Lauf der Zeit alle UWCs anschauen. Gibt es da für Sie persönlich eine Art „Ranking“?
Hodeige: Grundsätzlich erstmal nicht – denn wirklich in jedem UWC ist dieses fantastische, gewisse Etwas. Aber natürlich verbindet mich mit dem Freiburger Robert-Bosch-College extrem viel. 30 Jahre lang hab’ ich überall in Deutschland gesucht, wo endlich ein UWC wahr werden könnte – immerhin in dem Land, aus dem der großartige Kurt Hahn stammt. Und dass dann dank der Robert-Bosch-Stiftung und der Stadt und etlicher anderer Akteure ausgerechnet in Freiburg alles passte und zusammenkam, um diesen Traum umsetzen zu können, dass wir obendrein mit Laurence Nodder einen so großartigen Schulleiter gewinnen konnten – das alles kann ich manchmal jetzt noch nicht fassen. Aber zu „meinem“ UWC, dem Lester-Pearson-United-World-College of the Pacific auf Vancouver Island, hege ich schon eine ganz besondere Affinität. Dort hat meine Faszination für den nordamerikanischen Lebensentwurf begonnen. Und es war das erste Mal, dass ich am Wasser leben durfte, jeden Tag Meer, das weckt ein ganz spezifisches Freiheitsgefühl.

BZ: Wenn Sie heute die Welt anschauen – was ist daran dann der „UWC“-Blick?
Hodeige: Es ist ein ganz spezielles Selbstverständnis. Ganz konkret bin ich mir bewusst, dass die Errungenschaften der Französischen Revolution für uns hier in Zentraleuropa ganz wunderbar sind, dass ich aber anerkennen muss, dass das so nicht unbedingt eins zu eins auf andere Regionen zu verpflanzen ist. Das wirft Fragen auf: Was heißt eigentlich unser westlicher Freiheitsbegriff? Demokratie? Mehrheitsentscheidung? Und was ist daran besser, als wenn der Stammesälteste entscheidet? Oder anders herum: So wie wir hier mit alten Menschen umgehen, würde in anderen Teilen der Welt als verabscheuungswürdig gesehen. Dieses über-den-Rand-denken, ist typisch UWC. Es macht vermutlich erst mal Angst, wenn man erkennt, es gibt nicht nur die eine Wahrheit. Worüber also müssen wir uns verständigen? Es braucht auf jeden Fall Kreativität und Mut, um sich zu verständigen, so viel ist klar. Und in dieser Geisteshaltung leben UWC-Schüler – das ist eine wertvolle Lebenserfahrung, die nimmt einem keiner mehr weg.

BZ: Wenn sich in diesen Tagen der Kreis der UWC-Board-Vorsitzenden trifft, entscheidet er über einen Strategieplan für die kommenden zehn Jahre. Gibt es irgendetwas Grundlegendes, das sich in Zukunft ändern soll?
Hodeige: Nein. Es beschäftigt uns aber sehr die Frage der Relevanz der UWC-Colleges für die Zukunft. Dazu fällt mir der kanadischen Politiker Lester Pearson ein, der sehr klug fragte: „Wie kann es Frieden geben, wenn die Leute sich nicht kennen?“ Wie können sich aber Menschen kennen, wenn sie sich nicht begegnen? Bei uns begegnen sich die Menschen. Ein „Klassiker“ ist zum Beispiel die Begegnung zwischen Israelis und Arabern. Da wird erst mal die ganze Propagandaliste abgearbeitet. Und ganz allmählich fängt man dann an, Ähnlichkeiten wahrzunehmen. Beim Essen, zum Beispiel. Und dann beginnt die Annäherung, es wird gesprochen, erwogen, gemeinsam gestritten und beratschlagt.

BZ: Ist das Ihr Plädoyer für eher mehr als weniger UWC?
Hodeige: Unbedingt! Und die Verabschiedung unseres Strategieplans wäre insofern durchaus auch ein historischer Moment. Denn nach meinem Dafürhalten sind die United World Colleges heute wichtiger denn je. Da herrscht ein Spirit, der hat nichts Ausgrenzendes. Genau das brauchen wir.

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